Schreibaby
Baby liegt in einen Korb und weint
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Arztgeprüft

Schreibaby

Ein Schreibaby kann für seine Eltern schnell zum Alptraum werden. Circa 10 bis 20 Prozent aller Babys treiben ihr Umfeld durch besonders häufiges und anhaltendes Schreien zur Verzweiflung. Von einem Schreibaby sprechen Ärzte und Wissenschaftler dann, wenn ein Kind an mindestens drei Tagen pro Woche länger als drei Stunden schreit und sich dieses Phänomen über mehr als drei Wochen hinzieht.

Frau Dr. Rothe
von Dr. Anne Rothe
Kinderärztin
Mon, 24.07.2017 - 13:38 Tue, 12/07/2021 - 14:11

Was Sie machen können, wenn Ihr Baby zu lange schreit

In den ersten drei Lebensmonaten ist das Schreien meist besonders intensiv. Diese sogenannte "Dreier-Regel" wurde im Jahr 1954 durch den US-amerikanischen Mediziner Moritz Wessel eingeführt. Die Gründe dafür wurden in Verdauungsstörungen - den sogenannten Drei-Monatskoliken - vermutet, was mittlerweile aber widerlegt wurde.

Inzwischen sind die Probleme dieser Kinder deutlich umfassender erforscht als damals. Die Ursachen für das Schreien sind oft recht komplex und bestehen im Kern darin, dass die Kinder Schwierigkeiten haben, sich gegenüber den vielfältigen Umweltreizen abzuschirmen. Die Bochumer Kinder- und Jugendpsychologin Prof. Dr. Silvia Schneider stellt heraus, dass oft vor allem die Eltern von Schreibabys Hilfe brauchen - viele von ihnen leiden unter starken Schuldgefühlen, da sie nicht wissen, dass das Schreien meist durch Reizüberflutung und eine Selbstregulationsstörung ihres Kindes hervorgerufen wird.

Manche Eltern fühlen sich durch das permanente Brüllen, gegen das absolut nichts hilft, irgendwann nur noch hilflos und gestresst, was unter Umständen einen Teufelskreis in Gang setzt: Die Anspannung der Eltern überträgt sich auf das Kind, das dadurch nur umso intensiver schreit. Irgendwann macht sich bei Mutter oder Vater Wut breit - jedes Jahr sterben in der Schweiz Babys an den Folgen eines Schütteltraumas.

In der modernen Kinderheilkunde helfen Schrei-Ambulanzen sowohl Kindern als auch Eltern, ihre Probleme so bald wie möglich zu überwinden. Die professionellen Helfer können die Situation für beide Seiten mit Ruhe, Zuwendung sowie praktischen Hilfestellungen meist sehr schnell verbessern.

Schreibabys - Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Umweltreizen

Schreibabys schreien besonders intensiv und schrill, mit angezogenen Beinen und geballten Fäusten, hochrotem Gesicht und mit einem überstreckten Rücken. Tagsüber kommen sie nur schwer zur Ruhe und schlafen meist nicht länger als etwa 30 Minuten am Stück. Die Schreiattacken beginnen meist um die zweite Lebenswoche, nehmen bis zur sechsten Lebenswoche kontinuierlich zu und enden häufig mit dem Beginn des vierten Lebensmonats. In einigen wenigen Fällen ist die Brüllerei erst am Ende des ersten halben Jahres oder sogar noch später ausgestanden. Oft lässt auch der Appetit von Schreibabys zu wünschen übrig.

Wenn Eltern mit ihrem Schreibaby einen Arzt aufsuchen, ging dieser vor noch nicht allzu langer Zeit davon aus, dass sich das Schreien nach dem Abklingen der "Drei-Monats-Koliken" von selber geben würde. Inzwischen ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Ursache dafür nur bei wenigen Babys in Verdauungsschwierigkeiten liegt.

Lediglich fünf bis zehn Prozent der betroffenen Kinder leiden unter Nahrungsmittelunverträglichkeiten und vertragen bei Flaschenernährung beispielsweise kein Kuhmilch- oder Soja-Eiweiss. Eine Speiseröhrenentzündung oder Sodbrennen/Reflux plagen ebenfalls die wenigsten von ihnen. Falls Schreibabys einen Blähbauch haben, liegt die Ursache dafür meist nicht in Koliken, sondern im Schreien selbst - der Bauch bläht sich durch die dabei geschluckte Luft.

Wissenschaftler nehmen heute an, dass Schreibabys Probleme "mit dem Leben selbst" respektive der natürlichen Selbstregulation ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Körperfunktionen haben. Seit der Geburt strömen in jeder Sekunde vielfältige Reize auf sie ein, die verarbeitet werden wollen, auch ein angemessener Rhythmus zwischen Wachen und Schlafen muss sich erst entwickeln.

Robustere Kinder finden sehr bald einen Weg, ihre Aufmerksamkeit zu steuern und bei Überforderung zu schlafen oder abzuschalten. Durch Nuckeln an den Fingern oder am Schnuller beruhigen sie sich wirksam selbst. Ein Schreibaby hat in diesen Bereichen Schwierigkeiten - es reagiert auf Umweltreize sehr empfindlich, ist häufig überreizt und schläft weniger als andere Kinder. Manchmal gerät es schon in Stress, wenn es gefüttert oder gewickelt werden soll.

Die Ursachen für diese Hypersensibilität sind bis jetzt nicht restlos aufgeklärt. Schwedische Wissenschaftler haben anhand einer Befragung von 1.600 Müttern herausgefunden, dass rauchende Schwangere im Vergleich zu Nichtraucherinnen ein etwa 1,7 Prozent höheres Risiko trugen, ein Schreibaby zu bekommen. Einige Forscher vermuten auch einen Zusammenhang zwischen Schreibabys und starken seelischen Belastungen der Mutter in der Schwangerschaft.

Die meisten Schreibabys sorgen wahrscheinlich jedoch selbst dafür, dass sie nicht zur Ruhe kommen: Oft sind sie besonders aufmerksam und aufgeweckt, interessieren sich früher und intensiver für ihre Umwelt als andere Kinder - und kommen mit den daraus resultierenden Reizen vorerst nur schwer zurecht.

Fester Tagesablauf, Abschwächung von Umweltreizen, Rituale

Im Rahmen einer ausführlichen Diagnostik wird Ihr Kinderarzt zunächst versuchen, alle körperlichen Ursachen für das Schreien - Allergien, organische Erkrankungen, Schmerzen, verborgene Infekte - auszuschliessen. Danach geht vor allem darum, die Flut der Reize etwas einzudämmen und für einen möglichst regelmässigen Tagesablauf zu sorgen.

Patentrezepte dafür, wie Sie Ihr Schreibaby zur Ruhe bringen, gibt es leider nicht. Feste Zeiten zum Füttern, Spielen, Kuscheln, Schlafen und Spazierengehen verschaffen Ihrem Baby in der noch recht fremden Welt Orientierungs- und Ruhepole. Alle ein- bis eineinhalb Stunden sind bei so kleinen Kindern Ruhepausen angesagt. Ein festes Ritual - beispielsweise ein immer gleiches Schlaflied - hilft ihrem Kind vielleicht dabei, leichter in den Schlaf zu finden.

Achten Sie genau auf die Körpersprache und die Signale Ihres Kindes. Wenn Sie beispielsweise Ihrem Baby etwas zeigen und es den Kopf abwendet, statt sich dafür zu interessieren, ist es sehr wahrscheinlich bereits müde oder überfordert - und lässt sich in diesem Moment vielleicht noch leicht zur Ruhe bringen. Manchmal hilft es, das Baby herumzutragen oder sich für einige Zeit still neben das Kind zu legen und es durch körperliche Nähe zu beruhigen.

Wichtig ist: Bleiben Sie gelassen - oder so gelassen, wie Sie irgend können. Die Kinder nehmen Ihre Anspannung und Nervosität deutlich wahr und reagieren darauf oft mit noch intensiverem Schreien.
Schreibabys brauchen besonders viel Nähe, Zuwendung und positive Erfahrungen. Gleichzeitig sind sie stärker als andere Kinder auf eine möglichst reizarme Umgebung und einen festen Rhythmus angewiesen.

Schrei-Ambulanzen - wirksame Hilfestellungen für Schreibabys und ihre Eltern

Diese Gelassenheit fällt vielen Eltern eines Schreibabys verständlicherweise nicht ganz leicht. Gut ist, wenn Sie sich Hilfe suchen, bevor Sie völlig überfordert sind. Vielleicht können die Grosseltern oder Freunde Sie zeitweise entlasten, so dass Sie selber wieder zu sich kommen. Auch die betreuende Hebamme kann Sie in dieser Situation kurzzeitig unterstützen. Wenn Sie durch das Schreien zeitweise an Ihre eigenen Grenzen stossen, verlassen Sie am besten kurz den Raum, um sich zu beruhigen. Auf keinen Fall sollten Sie Ihr Baby jedoch über längere Zeit alleine schreien lassen oder es gar wegen Ihrer eigenen Anspannung schütteln.

Eine Schrei-Ambulanz leistet für Sie und Ihr Baby wirksame professionelle Hilfestellung. Die Einrichtungen sind an Kinderarztpraxen, Kliniken und Beratungsstellen angegliedert. Die dort tätigen Therapeuten helfen Ihnen, die Signale Ihres Kindes richtig einzuschätzen, zu deuten, wann es sich bereits müde oder überreizt fühlt und wie Sie mit Ihrem Baby in seinen wachen Phasen spielen und kommunizieren, ohne es zu überfordern.

Die Kinder lernen durch die Therapie in einer Schrei-Ambulanz, ihre natürliche Selbstregulation zu entwickeln, Eltern finden ihre inneren Stärken und Ressourcen wieder und überwinden Unsicherheiten oder Schuldgefühle. Falls Sie ein Schreibaby haben, zögern Sie also bitte nicht. Holen Sie sich professionelle Hilfe und freuen Sie sich auf die entspanntere und schöne Zeit, die Sie bald mit Ihrem Kind erleben werden.

Video zum Thema Schreibaby

 

 

Fazit
Ca. 10 bis 20% aller Babys schreien in den ersten Lebenswochen so viel, dass sie die Dreierregel (mehr als 3 Stunden am Tag, häufiger als 3 Tage pro Woche über mindestens 3 Wochen) erfüllen und somit per Definition ein „Schreibaby“ sind. Als Ursache wird eine Regulationsstörung angenommen, d.h. die Babys können mit den vielen Sinneseindrücken, die sie ungefiltert wahrnehmen, nicht umgehen und sind damit überfordert. Betroffene Eltern und ihre Babys finden in speziellen Schreiambulanzen Unterstützung und Hilfestellung.
Tipps
von Kinderärztin Dr. Anne Rothe
  • Die Vermeidung von Stress in der Schwangerschaft gilt als wichtige Massnahme, um einem Schreibaby vorzubeugen.
  • Laut der Meinung einiger Experten kann auch eine leichte Fehlstellung der Wirbelsäule und des Kopfes (KISS-Syndrom) die Ursache für vermehrtes Schreien sein. Dies kann durch eine osteopathische Behandlung erkannt und ggf. therapiert werden.
  • Da Schreibabys häufig an Schlafmangel leiden, ist es ein ganz wichtiger Ansatz, sie auch tagsüber regelmässig zum Schlafen zu bringen. Eltern sollten sie dabei z.B. mit Herumtragen, Abdunkeln, Spazierengehen oder Pucken unterstützen.
Arztgeprüft

Dieser Artikel wurde von unserem Expertenteam geprüft.

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